Laut zwei Berner Fachärzten haben die Medikamente möglicherweise einen Effekt auf den Krankheitsverlauf von Herzpatientinnen und -patienten.
Sars-CoV-2-Viren: Es könnte sein, dass Blutdrucksenker ihren Eintritt in die Lunge begünstigen. Könnte es sein, dass häufig eingesetzte Blutdrucksenker den Verlauf der Erkrankung mit dem neuen Coronavirus Sars-CoV-2 beeinflussen? «Das ist bisher nur eine Hypothese. Aber sie würde eine Ungereimtheit erklären», sagt Rami Sommerstein, Oberarzt an der Universitätsklinik für Infektiologie am Berner Inselspital.
Typisch bei gewissen Erkältungsviren oder Grippe ist laut Sommerstein, dass vor allem Menschen mit Immunschwäche oder Tumorleiden schwer erkranken. Auch schwangere Frauen und Babys seien teilweise mehr gefährdet. «Soweit wir bisher wissen, gilt das beim neuen Coronavirus nicht. Das hat uns überrascht.»
Gemäss der bisher grössten Studie an über 44'000 Erkrankten in China ist das Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf stattdessen erhöht bei Menschen mit Bluthochdruck, mit Diabetes, Herz-Gefäss-Erkrankungen und bei einem Alter von über 70 Jahren. «Es scheint, dass auch Herzpatientinnen und -patienten ein höheres Risiko haben. Das sind alles nicht die klassischen Risikogruppen. Und das war schon bei Sars so», stellt Sommerstein fest. Sars-CoV-2 und Sars sind nah verwandt.
Was Sommerstein und seinem Kollegen, dem Herzspezialisten Christoph Gräni, besonders zu denken gibt: Patientinnen und Patienten mit diesen erwähnten Erkrankungen nehmen sehr häufig bestimmte Blutdrucksenker, insbesondere sogenannte ACE-Hemmer (wie etwa Lisinopril) oder Sartane (zum Beispiel Losartan). Beide Typen von Blutdrucksenkern wirken ähnlich. In der Schweiz lösten 2018 schätzungsweise fast 1,2 Millionen Menschen Rezepte für solche Wirkstoffe ein. Allein Lisinopril nahmen gemäss dem Helsana-Arzneimittelreport über 160'000 Personen.
Die Viren heften sich in der Lunge an bestimmte Stellen.
«Ich habe versucht herauszufinden, welche Medikamente die Patientinnen und Patienten genommen haben, die schwer an Covid-19 erkrankt oder gar gestorben sind», sagt Sommerstein. «Aber das wird in den bisherigen Studien nicht berichtet.» Man habe noch nicht untersucht, ob das ein wichtiger Faktor sein könnte.
Das europäische Zentrum für Krankheitskontrolle (ECDC), wo die Fäden in Europa zusammenlaufen, sammelt ebenfalls keine Informationen zum Gebrauch dieser Medikamente bei den Corona¬virus-Erkrankten. «Auch damals bei Sars wurden keine entsprechenden Studien gemacht.»
Dass der Infektiologe ausgerechnet diese Blutdrucksenker im Visier hat, liegt an biologischen Besonderheiten von Sars-CoV-2. Hellhörig wurde Sommerstein, als Ende Januar bekannt wurde, dass sich diese Viren in der Lunge an ganz bestimmte Stellen heften. Als Eintrittspforte in den Körper wählen sie die Stellen, an denen normalerweise ACE2 andockt.
ACE2 ist ein körpereigenes Eiweiss mit mehreren Aufgaben: Es senkt den Blutdruck und bewahrt die Lunge vor schweren Schäden, beispielsweise vor dem akuten Atemnotsyndrom im Gefolge von Lungenentzündungen. ACE2 ist mit dem ACE-Eiweiss verwandt, das durch die ACE-Hemmer blockiert wird. Forscherinnen haben in Tierversuchen herausgefunden, dass durch die Gabe von ACE-Hemmern die Zahl der ACE2-Andockstellen ansteigt. Wäre das auch beim Menschen so, könnte das bedeuten, dass die Viren wegen diesen Blutdrucksenkern besser in die Lunge eindringen könnten, dass mehr Viren eindringen würden und eine Lungenentzündung schwerer verlaufen würde.
Allerdings wurden bei den Tierversuchen deutlich höhere Medikamentendosen eingesetzt, als es bei der Behandlung von Menschen üblich ist. Die Frage sei, ob die Einnahme solcher Medikamente im Zusammenhang stehe mit einem schwereren Verlauf der Erkrankung, sagt Sommerstein. «Um das zu klären, bräuchten wir rasch verlässliche Daten.»
Fachärzte raten Betroffenen ab, Blutdrucksenker abzusetzen.
Eine andere Hypothese besagt das Gegenteil. «Es ist möglich, dass das Coronavirus Herzpatientinnen und -patienten durch eine Lungenentzündung oder eine Entzündung des Herzmuskels schwächt. In diesem Fall würden die Blutdrucksenker das Herz unterstützen», sagt Christoph Gräni, Leitender Arzt an der Universitätsklinik für Kardiologie am Inselspital. Momentan sei die Rolle der Blutdrucksenker unklar, überraschend ist aber der mögliche Zusammenhang zwischen den Viren und diesen sehr oft eingesetzten Medikamenten.
Um Ärztekolleginnen in aller Welt schnell darüber zu informieren, haben Gräni und Sommerstein vergangene Woche einen Leserbrief an das «British Medical Journal» geschickt. «Wir hoffen, dass wir so rasch Studien anstossen, um mehr herausfinden zu können.»
Bis es so weit ist, raten beide Fachärzte allen Personen, die solche Medikamente nehmen, dringend davon ab, selbst zu experimentieren oder ihre Blutdrucksenker abzusetzen. «Wir wissen eindeutig noch zu wenig, um eine Empfehlung abgeben zu können.»
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